
Wir trafen Nyang’ori vor seiner Teilnahme am WEF in Luzern zu einem Interview.
Nyang’ori, du nimmst zum ersten Mal am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos teil. Was bedeutet diese Einladung für dich und Cemiride?
Es ist eine Ehre für uns – und auch eine Anerkennung für die wirksame Arbeit, die wir seit bald 20 Jahren für Minderheiten und Indigene in Kenia leisten. Meines Wissens ist es auch das erste Mal, dass am WEF über die menschenrechtlichen Herausforderungen für diese Bevölkerungsgruppen gesprochen wird. Als Plattform ist dieses Forum auch deshalb so interessant, weil es Cemiride aktuell vor allem um die wirtschaftliche Ermächtigung von Minderheiten geht, die bis heute unter Hunger und Armut leiden.
Warum wurde gerade Cemiride eingeladen, die Zivilgesellschaft an diesem Panel zu vertreten?
Weil wir in Kenia mit der Unterstützung von RAISE, VSF-Suisse und Fastenaktion erfolgreich gezeigt haben, wie man die Stimmen benachteiligter Minderheiten, Indigener und kleinbäuerlicher Familien in politische Prozesse einbringt. Wirksame Entwicklungsarbeit kann man nur leisten, wenn die Betroffenen selbst dabei mitreden und mitentscheiden können. Je präsenter diese Stimmen sind, desto besser sind die Resultate.
Cemiride und RAISE
Der 55-jährige Entwicklungsexperte Nyang’ori Ohenjo leitet das Center for Minority Rights Development (Cemiride) in Kenia, eine Organisation, die sich für die Rechte der Indigenen und der kleinbäuerlichen Familien einsetzt. Cemiride ist eine Partnerorganisation von Vétérinaires sans Frontières (VSF–Suisse) und Teil von RAISE, einem internationalen Konsortium von NGOs, das von Fastenaktion geleitet und von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) kofinanziert wird. Das Ziel von RAISE ist es, die Uno-Deklaration für die Rechte der Bäuerinnen und Bauern und anderer Personen im ländlichen Raum (UNDROP) umzusetzen sowie die lokal angepasste und agrarökologische Landwirtschaft zu fördern.
Was müsste am WEF passieren, damit eine positive Wirkung für unsere Arbeit im Globalen Süden entsteht?
Nur schon die Teilnahme an dieser Veranstaltung über die neue Global Alliance Against Hunger and Poverty (GAHP) ist relevant für uns. Sie setzt im Vorfeld des nächsten G20-Gipfels in Südafrika den Fokus auf unsere Themen Hunger und Armut – und auf die Alltagsherausforderungen für kleinbäuerliche Familien, Fischer:innen und Hirt:innen. Der Auftritt während des WEF ermöglicht uns einen direkten Austausch mit massgeblichen Entscheidungsträger:innen. Wir haben die Gelegenheit, bei politisch mächtigen Menschen Interesse für unsere Anliegen und unsere erfolgreichen Lösungsansätze zu wecken. Idealerweise ergeben sich dann Synergien zwischen schon bestehenden Prozessen im Rahmen des Welternährungskommitees (CFS) und GAHP. Denn das CFS ist ein einzigartiges Forum, in dem die Zivilgesellschaft eine starke Stimme hat.
Für deinen Auftritt am Panel sind fünf Minuten vorgesehen. Was wird deine Hauptbotschaft sein?
Ich werde betonen, wie wichtig es ist, dass die Betroffenen im Globalen Süden auch in der neuen Allianz eine Stimme haben und mitentscheiden können. Und wie wirksam ihre Erfahrungen und Kompetenzen im Kampf gegen Hunger und Armut sind. Wie es uns über RAISE gelingt, diese Stimmen in Kenia in politische Prozesse einzubringen und was wir damit erreichen. Wichtig ist mir auch darzustellen, wie vielfältig die Gründe für Armut und Hunger sind: Bei vielen ist nicht fehlendes Geld das Problem, sondern fehlender Zugang zu Land oder zu Wasser. Deshalb ist es so zentral, dass die betroffenen Gemeinschaften die politischen Strategien mitgestalten können, denn sie wissen am besten, was sie brauchen.
Ein wichtiger Faktor ist also der Zugang zu Land?
Für die Ernährungssicherheit ist dieser Zugang entscheidend. Es herrscht ein enormer Wettbewerb um Land, denn Bergbauunternehmen, Energieerzeuger und internationale Landwirtschaftskonzerne möchten sich immer mehr davon aneignen. Deshalb werden Indigene und kleinbäuerliche Familien oft von ihrem Land vertrieben – oder wegen dem schnellverdienten Geld dazu verführt, es zu verkaufen. Aber ohne Land gibt es keine langfristige Ernährungssicherheit für sie. Haben sie Land und nutzen darauf agrarökologischen Anbaumethoden können sie hingegen meist sogar Überschüsse produzieren, die sie verkaufen können.
Was kann die Global Alliance Against Hunger and Poverty Neues bringen im Kampf gegen Hunger und Armut?
Es besteht tatsächlich ein gewisses Risiko für unnötige Doppelspurigkeiten mit bereits existierenden Bemühungen. Andererseits könnte sie als politische Plattform wertvoll sein. Über sie lässt sich hoffentlich der nötige gute Wille schaffen, um unsere erfolgreichen Konzepte weiterzutragen und international breiter umzusetzen. Entscheidend ist, dass diese Allianz das CFS nicht konkurrenziert, sondern ergänzt.
Global Alliance Against Hunger and Poverty
Diese auf Anregung der brasilianischen G20-Präsidentschaft neu etablierte Allianz will die internationalen Bemühungen im Kampf gegen Hunger und Armut bündeln und finanzielle Mittel mobilisieren, um in einzelnen Ländern erfolgreiche, kosteneffiziente Strategien auch andernorts anzuwenden. Die Schweiz wird sich darin ebenfalls engagieren und an der Paneldiskussion in Davos detaillierter über ihre Pläne informieren.

Nyang’ori Ohenjo spricht an der Paneldiskussion zur neuen globalen Allianz gegen Hunger und Armut am WEF.
Was braucht es, um sicherzustellen, dass die Stimmen der Betroffenen auch tatsächlich gehört werden? Und dass die einzelnen Länder die in UNDROP festgelegten Rechte auch umsetzen?
Einladungen wie diese sind auf jeden Fall hilfreich – allerdings ist die Teilnahme an solchen internationalen Foren sehr teuer. Warum findet das WEF nicht jedes Jahr an einem anderen Ort statt, damit Minderheiten aus dem Globalen Süden leichter dorthin gelangen können? Die Umsetzung von UNDROP wiederum braucht in allen Ländern verbindliche Mechanismen und ausreichende Finanzierung. Oft beteiligt sich die Zivilgesellschaft nur projektbezogen und zeitlich begrenzt. Wir müssen sicherstellen, dass auch nach dem Rückzug eines Geldgebers weitergearbeitet wird bis nachhaltige Ergebnisse erzielt sind.
Es gibt viele lokale Erfolgsgeschichten, um Hunger und Armut zu beenden. Aber auf globaler Ebene scheinen die Auswirkungen eher begrenzt zu sein. Was müssen wir besser machen?
Viele Bemühungen sind lokal sehr erfolgreich, aber eben nur für einige Tausend Menschen in einigen Regionen einiger Länder. Die Frage, wie man das ausweiten kann, ist umso dringender als die Klimaerwärmung die Lage vielerorts verschärft. Damit mehr Menschen von den erfolgreichen Konzepten profitieren, braucht es den Willen der nationalen Regierungen. Und dafür ist Lobbyarbeit zentral, wie wir sie über RAISE in Kenia bereits erfolgreich machen. Zum Beispiel gibt es direkte Gespräche mit dem Landwirtschaftsminister über die Landnutzung. Wenn wir sowas auch in anderen Ländern erreichen, lassen sich die lokal begrenzten Erfolgsgeschichten ausweiten.
Es gibt also erfreuliche Fortschritte in Kenia. Hat sich durch RAISE auch die Situation für die Hirt:innen verbessert, die mit ihrem Vieh umherziehen?
Ja, gleich mehrfach. So konnten wir erreichen, dass es nun auf Regierungsebene Gespräche gibt, Land wieder für die Viehzucht zu nutzen, das zuvor für Entwicklungs- oder Bauprojekte verkauft wurde. Behörden und Gerichte haben verstanden, dass die Viehzucht entscheidend ist für die Ernährungssicherheit auf nationaler Ebene – und dass es dafür genügend Weiden braucht. Ausserdem konnten wir agrarökologisches Wissen zu den Nomad:innen bringen, was ihnen ebenfalls hilft. Dank RAISE wird derzeit zudem ein Gesetzesentwurf überprüft, um die Rechte der Hirt:innen besser zu schützen, wie dies von UNDROP verlangt wird. Vor allem aber haben wichtige Regierungsmitglieder dank RAISE den Zusammenhang zwischen Land, Weidewirtschaft und Ernährung verstanden – sie betrachten Land heute ganz anders als früher.
Welche Herausforderungen müssen ausserdem angegangen werden?
Es braucht vor allem mehr Beständigkeit bei den Fortschritten. Wir müssen sicherstellen, dass die Inhalte eines Projekts weitergehen, auch wenn das Projekt endet. Dazu braucht es die Unterstützung der Regierung für den menschenrechtsbasierten Entwicklungsansatz. Wir arbeiten weiter daran, das Bewusstsein zu stärken, wie relevant dabei die Stimmen der Bevölkerung sind. Wichtig wäre auch eine Anpassung des Bodenrechts an lokale Gegebenheiten, denn es funktioniert heute noch immer nach den Prinzipien der europäischen Kolonialherrschaft.
Wie optimistisch bist du für die Zukunft in Kenia?
Wir haben ein tragfähiges Netzwerk aufgebaut und damit Fortschritte erreicht, die das RAISE-Projekt überdauern werden. Ich bin sehr optimistisch!