Herr Kirchschläger, die USA und viele Länder Europas haben ihre Budgets für Entwicklungshilfe stark gekürzt, auch die Schweiz. Ist das verantwortungslos angesichts von so viel Hunger, Armut und Gewalt auf der Welt?
Ganz klar, denn diese Kürzungen führen zu mehr Leid, Elend und Tod. Mit Budget- und Entscheidungsmacht kommt automatisch Verantwortung. Aus ethischer Perspektive müssten sich Politiker:innen zwingend vor Augen führen, was ihre Beschlüsse für konkrete Folgen haben.
Die Regierungen argumentieren, dass sie das Geld anderswo brauchen, etwa um die eigene Bevölkerung besser zu schützen. In dem Sinne übernehmen sie doch durchaus Verantwortung, einfach in einem anderen Bereich.
Dennoch ist es ethisch betrachtet verantwortungslos, diese wichtigen Aufgaben durch unsolidarisches Handeln gegenüber den Ärmsten wahrzunehmen. Genauso problematisch ist es, vor globalen Schwierigkeiten die Augen zu verschliessen. Menschenwürde und Menschenrechte gelten für alle: Wir leben in einem globalen Dorf und sind alle dafür mitverantwortlich, zum Beispiel die Klimazerstörung aufzuhalten.
Anmeldung zum Aktionsforum am 24. Oktober in Bern
Bereits zum dritten Mal lädt Fastenaktion Interessierte zum Aktionsforum ein. Auch diesmal diskutieren prominente Gäste mit – neben Peter G. Kirchschläger zum Beispiel Ständerätin Isabelle Chassot (Mitte) oder der Psychologe Remo Ryser. Ausserdem gibt es direkte Einblicke in die Arbeit von Fastenaktion im Globalen Süden.

Diskussionsrunde beim Aktionsforum 2024 im Neubad Luzern.
Dafür bräuchte es globale Kooperation, etwa auf Uno-Ebene. Doch aktuell scheint das Ziel, eine friedlichere, gerechtere Welt zu schaffen (Stichwort Agenda 2030) in weite Ferne zu rücken. Erleben wir gerade eine globale Verantwortungskrise?
So weit würde ich nicht gehen. Es gibt weiterhin viele Menschen an vielen Orten, die Verantwortung übernehmen. Allerdings reagieren derzeit tatsächlich zahlreiche Entscheidungsträger:innen in Politik und Wirtschaft nicht entschieden genug auf fundamentale weltweite Missstände wie Kriege, Armut, Hunger, globale Ungleichheit, Klimazerstörung oder potenzielle Gefahren durch die sogenannte «Künstliche Intelligenz». Da bräuchte es deutlich mehr Führungsverantwortung. Mir scheint, dass vor allem die globale Solidarität in einer Krise steckt.
Woran machen Sie das fest?
Normalerweise führen Krisen dazu, dass das Mitgefühl für die Opfer wächst – und damit auch die Hilfsbereitschaft. In der gegenwärtigen schwierigen Weltlage passiert jedoch das Gegenteil: Die vielen Krisen führen nicht zu mehr globaler Solidarität, sondern zu weniger.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Mitverantwortlich sind die sozialen Medien, die eigentlich asoziale Medien heissen sollten, da sie gezielt als Suchtprodukte entwickelt worden sind und uns von Alltagsgesprächen mit anderen Menschen abhalten. Sie manipulieren, radikalisieren und zerreissen unsere Gesellschaften – ein Mitgrund, dass sich globale Solidarität verringert. Dagegen sollten wir dringend etwas unternehmen.
Wie stehen Verantwortung und Solidarität zueinander?
Solidarität kommt von «solidum» («Boden») und bringt zum Ausdruck, dass wir alle auf dem gleichen Boden stehen. Dass wir für jeden einzelnen Menschen und für die Gemeinschaft da sein sollen, wenn Hilfe von Nöten ist. Dass wir für jeden einzelnen Menschen und für die Gemeinschaft Verantwortung tragen. Aber auch auf die Hilfe von anderen zählen können, wenn wir sie brauchen. Wie wichtig Solidarität ist, wird einem sehr schnell klar, wenn man sich auf ein simples Gedankenexperiment einlässt: Wie wäre es, wenn das eigene (Über-)Leben davon abhängig wäre, dass politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger:innen ihrer Verantwortung gerecht werden?

Fastenaktion engagiert sich auch für Menschenrechte in Gebieten, wo Rohstoffe abgebaut werden, wie hier in der Demokratischen Republik Kongo.
Müssten neben der Zivilgesellschaft auch andere Institutionen wie die Kirchen mehr Verantwortung übernehmen?
Das wäre enorm wichtig, gerade auch, um Regierungen und den Privatsektor zu motivieren, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Konzernverantwortungsinitiative, bei der sich die Kirchen beeindruckend stark engagieren – im Einklang mit ihren eigenen ethischen Prinzipien und Werten. Gleichzeitig ist es eine ständige Aufgabe der Kirchen, sich immer wieder selbstkritisch zu überprüfen, ob sie auf der richtigen Seite der «Schwächeren» und nicht auf der Seite der «Mächtigeren» stehen. Und ob sie sich nicht noch mehr einsetzen können.
Wie weit soll Verantwortung reichen? Welche Verantwortung hat die Schweiz für Menschen in anderen Ländern, denen es schlecht geht?
Die Schweiz hat sich verpflichtet, die Menschenwürde und Menschenrechte aller Menschen zu respektieren, zu schützen, durchzusetzen und zu ihrer Realisierung beizutragen. Dieser Verantwortung muss sie gerecht werden. Es kann ihr zum Beispiel nicht egal sein, dass multinationale Konzerne mit Schweizer Hauptsitz mit Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in anderen Ländern Geld verdienen.
In welchen Bereichen müsste die Schweiz ausserdem mehr tun?
Ein Thema ist sicher die historisch einmalige Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht bei ein paar wenigen multinationalen Technologiekonzernen. Sie dominieren nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft, da sie mit Technologien wie «KI» demokratische Meinungs- und Entscheidungsprozesse zu ihren Gunsten manipulieren. Die Schweiz sollte sich für die Durchsetzung einer globalen menschenrechtsbasierten Regulierung engagieren. Stärker einsetzen sollte sie sich auch im Kampf gegen die explodierende globale Ungleichheit und die Klimazerstörung – zu der übrigens auch der massive Energie- und Wasserverbrauch von «KI» beiträgt.
Kommen wir aus der aktuellen Krise bei der Entwicklungszusammenarbeit wieder heraus? Oder wird es eher noch schlimmer?
Ich bin trotz der aktuellen Weltlage zuversichtlich – und zwar aufgrund des historischen Verhaltens der Menschheit. Sie hat schon mehrfach gezeigt, dass sie bereit ist, sich zum Beispiel technologisch einzuschränken, wenn ihr eigenes Wohlergehen und das des Planeten auf dem Spiel steht. So wurde die Nutzung der Nukleartechnologie nach mehreren Einsätzen von Atombomben mit globaler Regulierung massiv beschränkt, um Schlimmeres zu verhindern. Ich erwarte, dass sich die Lage bei der Entwicklungszusammenarbeit wieder bessern wird. Dazu gehört für mich auch die Einsicht, dass diese nicht primär den Eigeninteressen dienen soll und keinesfalls zu einer versteckten Wirtschaftsförderung verkommen darf. Denn welches Licht wirft es auf uns, wenn wir nur helfen, weil wir selbst davon profitieren?
Zur Person
Prof. Dr. Peter G. Kirchschläger wurde 1977 in Wien geboren, ist verheiratet und Vater zweier Töchter. Seit 2017 hat er den Lehrstuhl für Theologische Ethik inne und leitet das Institut für Sozialethik an der Universität Luzern. Darüber hinaus bekleidet er diverse Forschungs- und Gastprofessuren. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Ethik der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz, die Menschenrechte sowie die Ethik in der Wirtschafts-, Finanz- und Unternehmenswelt.