Eine Übung zum Thema Verantwortung im Workshop des Psychologen Remo Ryser.
Knapp 20 Personen gehen wild durcheinander und in wachsendem Tempo durch einen Raum im Progr, einem grossen Veranstaltungslokal im Berner Stadtzentrum. Je höher die Geschwindigkeit, desto mehr Aufmerksamkeit braucht es, nicht aus Versehen zu kollidieren. Die Übung illustriert die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, sich selbst und alle anderen zu schützen.
Als nächstes fordert der Psychologe und Workshopleiter Remo Ryser die Gruppe auf, darüber nachzudenken, wie sie das Übernehmen von Verantwortung empfinden – etwa als Last oder Kraftquelle – und sich zu zweit dazu austauschen. Die folgenden Gespräche sind sehr angeregt. Wohl alle haben die positiven und negativen Seiten schon erlebt: Die Freude, wenn man tatsächlich etwas bewegen kann. Und der Frust, wenn trotz aller Bemühungen kaum etwas passiert. «Nährend und gesund Verantwortung zu übernehmen ist besonders wichtig in einer Zeit, in der wir als Menschheit um unser Überleben ringen und uns viele Gewissheiten der Zivilisation entgleiten», erklärt Remo Ryser und gibt zahlreiche praktische Tipps.
Die Workshopgruppe gehört zu rund 60 Personen, die dieses Jahr zum dritten Aktionsforum von Fastenaktion nach Bern gekommen sind. Einen Tag lang geht es um verschiedene Formen von Verantwortung, wie man am besten mit ihr umgeht und Länder oder Konzerne dazu bewegen könnte, sie nicht zu ignorieren, sondern wahrzunehmen.
Ein Viertel der Hilfsgelder gestrichen
Das Thema ist so aktuell, weil nicht nur die Schweiz, sondern zahlreiche andere Länder die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit im Globalen Süden gekürzt haben. «Bis Ende 2025 wird weltweit rund ein Viertel der bisherigen Gelder wegbrechen», hält Bernd Nilles, der Direktor von Fastenaktion, in seiner Rede am Aktionsforum fest. «Das trifft die Ärmsten im Süden ganz unmittelbar und dürfte die Erfolge des letzten Jahrzehnts bei der Reduktion des Hungers komplett rückgängig machen.»
Für Fastenaktion ist klar: Die wohlhabenden Länder drücken sich vor ihrer Verantwortung. Wir haben deshalb unterschiedliche Expert:innen eingeladen, um den Gästen des Aktionsforums eine vertiefte Auseinandersetzung zu ermöglichen. «Als Gesellschaft haben wir eine Pflicht zu handeln», betont Lucrezia Meier-Schatz, ehemalige Mitte-Nationalrätin und Präsidentin des Stiftungsforums von Fastenaktion. «Wir können nicht einfach sagen, das Leid in anderen Ländern auf der Welt gehe uns nichts an. Wir sind Teil eines globalen Gefüges. Für ein wohlhabendes Land wie die Schweiz sollte Verantwortung eine moralische Selbstverständlichkeit sein.»
Doch sie beobachtet auch, dass Engagement von vielen heute als Last empfunden wird. «Die Leute wollen mehr Freiräume und sind nicht mehr im gleichen Mass bereit, Verantwortung zu übernehmen. Das ist für Organisationen wie Fastenaktion nicht hilfreich.»
Sich aktiv in die Politik einmischen
Der Theologe und Ethikprofessor Peter G. Kirchschläger findet es derweil höchst problematisch, bei der politischen Verteilung von Mitteln unterschiedliche Gruppen gegeneinander auszuspielen. «Wir haben eine Verantwortung gegenüber verschiedenen Menschen auf verschiedenen Ebenen. Und es gäbe durchaus Wege, zu mehr Geld zu kommen. So gehen in der EU jedes Jahr rund 100 Milliarden Euro durch Steuervermeidung verloren. Damit könnte man eine Menge tun.» Er finde es schon sehr erstaunlich, dass darüber praktisch nicht diskutiert werde. «Stattdessen beschäftigen wir uns obsessiv mit Migration und Asylsuchenden, obwohl dies ökonomisch vergleichsweise wenig relevant ist.»
Mitte-Ständerätin Isabelle Chassot, die auch im Stiftungsrat von Fastenaktion sitzt, ermutigt das Publikum, sich aktiv einzumischen. «Melden Sie sich bei den Parlamentsmitgliedern Ihres Kantons und teilen Sie Ihnen mit, was Sie beschäftigt. Die lesen das nämlich durchaus.» Dass solche Stimmen etwas bewirkten, zeige sich zum Beispiel daran, dass Nachhaltigkeit heute ein viel grösseres Thema sei als früher. «In vielen anderen Ländern gibt es diese Freiheit nicht, die Politik auf diese Weise zu beeinflussen – nutzen Sie das!»
Die südafrikanische Menschenrechtsanwältin Jessica Lawrence berichtet über ihre Arbeit in Afrika.
Regelbasierte Weltordnung unter Druck
Später verteilen sich die Gäste auf die unterschiedlichen Workshops, in denen es neben den psychologischen Herausforderungen für Verantwortungsträger:innen auch um die Folgen von finanziellen Investitionen und die Erfolge der Solidaritätskalebassen im Senegal geht. Ausserdem berichtet die südafrikanische Menschenrechtsanwältin Jessica Lawrence über die Arbeit von Lawyers for Human Rights, eine Partnerorganisation von Fastenaktion.
«Die regelbasierte Weltordnung steht heute enorm unter Druck», erklärt Lawrence, «umso wichtiger ist es, die Mächtigen in die Verantwortung zu nehmen und dabei die Menschenrechte ins Zentrum zu stellen.» Auch wenn es schwierig sei, zum Beispiel Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen, deren Gewinn höher sei als das jährliche Bruttoinlandprodukt ganzer Staaten. Ein Gewinn, der oft auf Kosten kleinbäuerlicher Gemeinschaften erzielt wird, die etwa wegen Rohstoffminen unter vergifteten Böden und gesundheitlichen Problemen leiden.
Zähe Arbeit, aber mit Erfolgen
Lawyers for Human Rights bemüht sich darum, den Zugang zur Justiz auf internationaler Ebene zu gewährleisten. Die Organisation bietet kostenlose Rechtshilfe für schutzbedürftige Gemeinschaften, vertritt Betroffene von Menschenrechtsverletzungen und dokumentiert Verstösse, um sie lokalen Behörden und internationalen Gremien zu melden.
«Es ist eine zähe Arbeit, aber wir sehen durchaus gewisse Erfolge», sagt Lawrence. «Immer häufiger fragen afrikanische Regierungsvertreter:innen bei uns um Unterstützung an, und von uns vorgeschlagene Formulierungen tauchen in offiziellen staatlichen Dokumenten auf. Auch weil es uns immer wieder gelingt, die Stimmen betroffener Gemeinschaften in die relevanten Gremien zu tragen.»
Die angeregten Gespräche in den Pausen zeigen, dass das Thema des Tages und die diversen Zugänge bei den Gästen gut ankommen. Und obwohl die Lage für die Entwicklungszusammenarbeit aktuell herausfordernd ist, gibt es auch Positives: «Wir haben als Zivilgesellschaft bereits viel erreicht», betont Bernd Nilles am Ende der Veranstaltung. «Es gibt zum Beispiel internationale rechtsverbindliche Regeln und Verträge, die einklagbar sind. Und Gerichte, die Urteile gegen Länder fällen, die zu wenig tun. Wir sind also auf dem richtigen Weg, denn auch so können Politiker:innen dazu gebracht werden, sich zu bewegen und Verantwortung zu übernehmen.»
Erfahren Sie hier mehr über unsere wirkungsvolle Arbeit im Globalen Süden.