
Ousseynou Gaye bei einem Treffen einer Solidaritätsgruppe in der Gemeinde Gaé.
Fastenaktion arbeitet in mehreren Ländern mit dem Konzept der Solidaritätsgruppen – besonders erfolgreich im westafrikanischen Senegal: Innerhalb von neun Jahren hat sich dort die Zahl der Mitglieder auf 81‘000 Personen verdreifacht, derweil sind die Vermögen der inzwischen über 2500 Gruppen um mehr als 700 Prozent auf umgerechnet 1.4 Millionen Franken gestiegen. Und dies, ohne dass wir dort mehr Mittel pro Jahr einsetzen als früher.
Ein Grund für diese erfreuliche Entwicklung: Solidaritätsgruppen verbessern im Senegal derart offensichtlich die Lebensumstände ganzer Familien, dass dieser Ansatz inzwischen auch unabhängig von Fastenaktion aufgegriffen und weiterverbreitet wird – also genau das, was wir mit unserer Hilfe zur Selbsthilfe erreichen möchten.
Einer dieser initiativen Menschen ist Ousseynou Gaye. Der 42-Jährige hat den Ansatz zehn Jahre lang als Buchhalter unserer Partnerorganisation Agrécol Afrique in Thiès mitverfolgt und ihn nun auf eigene Faust in seine Heimatregion, die Commune Gaé, gebracht. «Ich habe gesehen, wie viel Gutes daraus in den Gemeinschaften entstanden ist», erklärt er sein Motiv. «Die Solidaritätsgruppen stärken die Frauen, fördern das Unternehmertum, die Eigenverantwortung, aber auch die Solidarität und das gegenseitige Vertrauen.»
Solidaritätsgruppen
In den Solidaritätsgruppen zahlen die Mitglieder Beträge in Form von Geld oder Grundnahrungsmitteln in eine gemeinsame Kasse ein. Daraus können sie günstige oder im Senegal gar zinslose Darlehen für Grundbedürfnisse wie die Begleichung von Schulgebühren, Gesundheitsausgaben oder den Kauf von Nahrungsmitteln aufnehmen.
Auch bei Notfällen kann Geld oder Getreide geliehen werden, denn nicht Profit, sondern Solidarität und Absicherung stehen an erster Stelle. Fastenaktion finanziert jeweils Ausbildung und Begleitung der Gruppen, die durch lokale Animatorinnen und Animatoren geschieht, zahlt aber selbst nichts in die Kassen ein.
Die Solidaritätsgruppen sind auf die kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Länder abgestimmt. Und sie reduzieren den Hunger zuverlässig und nachhaltig, wie eine Wirkungsstudie 2019 (auf Englisch) zeigte.
Frauen in Führungspositionen
Doch in seiner Heimatregion musste er ohne die Unterstützung von Fastenaktion erst mal etwas Überzeugungsarbeit leisten. «Inzwischen aber gibt es dort 27 Solidaritätsgruppen mit 615 Mitgliedern. Ergänzend dazu haben wir sie auch in der Schule eingeführt, was es zuvor noch nie gab.» Wie üblich sind die meisten Führungspositionen mit Frauen besetzt. Und nach Ousseynous Eigeninitiative gibt es nun auch dort eine gewisse Begleitung durch Fastenaktion, um sicherzustellen, dass das Konzept konsequent umgesetzt wird. Denn nur so kann es seine volle Wirkung entfalten (siehe Interview unten).
Zu den neuen Führungskräften gehört auch Absatou Diagne. Die 35-jährige Erzieherin aus Gaé präsidiert das regionale Netzwerk der Solidaritätsgruppen – doch begonnen hat sie mit einer Gruppe in der eigenen Nachbarschaft. «Schon seit Jahren traf ich mich jede Woche mit ein paar Freundinnen zum Plaudern. Über Ousseynou hörten wir 2022 erstmals von den Solidaritätsgruppen und dass in einem anderen Quartier bereits einige aktiv waren. Wir liessen uns das Konzept erklären und gründeten schliesslich unsere eigene.»

Absatou Diagne engagiert sich seit drei Jahren in Solidaritätsgruppen und ist die jüngste Präsidentin eines Regionalnetzwerks im Senegal.
Bessere Finanzen, mehr Selbstbewusstsein
Schon nach zwei Monaten hatten sie umgerechnet 35 Franken beieinander und konnten ihre ersten Gruppeneinkäufe machen. Nach vier Monaten gründeten sie ein Nachbarschaftsnetzwerk. «Ich wurde zur Sekretärin gewählt, weil ich lesen und schreiben kann», erzählt Absatou. Mittlerweile ist sie die jüngste Präsidentin eines Regionalnetzwerks im Land. Diese wiederum sind im nationalen Netzwerk Rencas miteinander verbunden. «Die anderen nennen mich deswegen manchmal Bébé Rencas», erzählt sie lachend. «Inzwischen machen wir sogar Gruppeneinkäufe auf regionaler Ebene, erhalten die Produkte dadurch viel günstiger, als wenn jede Familie sie für sich im Laden kaufen würde, und erzielen dabei erst noch einen kleinen Gewinn für das Netzwerk.»
Auch persönlich hat sich Absatou Diagne durch all das positiv verändert: «Früher habe ich mich nicht getraut, vor vielen Menschen zu sprechen, inzwischen habe ich sogar schon den Minister für Soziale und Solidarische Ökonomie getroffen, und er weiss nun, was wir machen. Ich bin eine Entwicklungs-Akteurin geworden und freue mich sehr darüber.»
Auch Ousseynou Gaye ist stolz auf das Erreichte, zu dem er mit seiner Initiative den Anstoss gegeben hat. «Wir wollen nun mit einem kleinen Team weitere Gruppen in den umliegenden Gemeinden einrichten und noch mehr Menschen schulen, damit sie diese Initiative weiterführen.»
«Vielversprechend, aber nicht risikofrei»
Die Entwicklung im Senegal ist äusserst positiv, findet Markus Brun, der bei Fastenaktion den Bereich Internationale Zusammenarbeit leitet. Er erklärt, was dies ermöglicht, welche Herausforderungen sich daraus ergeben und was das alles für Fastenaktion heisst.

Markus Brun leitet den Bereich Internationale Zusammenarbeit bei Fastenaktion und kann auf jahrzehntelange Erfahrung zurückblicken.
Wie ungewöhnlich ist eine solche Eigendynamik bei der Weiterverbreitung unserer Konzepte?
Es gibt auch in anderen Ländern solche Effekte, aber in diesem Ausmass ist es tatsächlich eine Ausnahme. Dabei hilft natürlich, dass die Leute erleben, wie sie mit wenig Aufwand viel Gutes für sich erreichen können. Die Voraussetzungen im Senegal sind auch deshalb günstig, weil eine Zusammenarbeit mit der lokalen Regierung möglich ist, obwohl deren Unterstützung unterschiedlich sein kann.
Gibt es noch weitere günstige Voraussetzungen, die sich anderswo nicht finden?
Es spielen wohl auch religiöse Gründe eine Rolle. Dass Solidaritätsgruppen zinsfrei funktionieren, kommt in muslimischen Gesellschaften besonders gut an. Deshalb wird unser Ansatz auch von den lokalen religiösen Autoritäten unterstützt, was sehr hilfreich ist. Mit unserer Arbeit engagieren wir uns für die Ärmsten. Dies ist meist nicht im Sinne der Privilegierten in den Ländern, da für sie ein Machtverlust droht. Aber im Senegal verliert durch die Solidaritätsgruppen eigentlich niemand etwas.
Die Solidaritätsgruppen werden primär von Frauen getragen, die Eigeninitiative zur Weiterverbreitung kommt bisher jedoch vor allem von Männern. Weshalb ist das so?
In unseren Partnerorganisationen sind viele Männer aktiv, die im Rahmen ihrer Arbeit die Vorteile der Gruppen erleben und das Konzept dann spontan weitertragen. Der Senegal ist noch immer eine eher männerdominierte Gesellschaft, was sich aber langsam aufweicht – auch dank unserer Arbeit mit den Solidaritätsgruppen.
Diese Eigendynamik ist im Grunde genau das, was wir mit unserer Hilfe zur Selbsthilfe anstreben, oder?
Absolut, es ist eine äusserst positive Entwicklung, die von den Menschen selbst getragen und stark lokal verwurzelt ist. Aber ganz risikofrei ist es nicht. Ohne Begleitung durch unsere Partnerorganisationen könnte das Konzept verwässert werden, weniger gut funktionieren und damit auch seinen guten Ruf verlieren. Wir versuchen deshalb, eine gewisse Begleitung auch bei jenen Gruppen sicherzustellen, die durch Eigeninitiative entstanden sind. Zumindest Ansprechpersonen sollten zur Verfügung stehen, damit sich die Gruppen bei Fragen beraten lassen können. Da unsere Partner damit zum Teil überfordert sind, versuchen wir das über regionale Netzwerke zu leisten, in denen die Gruppen zusammengeschlossen sind. Daraus könnte mit der Zeit eine unabhängige Organisation werden, die diese Beratung zum Selbstkostenpreis – oder irgendwann vielleicht auch mit einem kleinen Gewinn – unter die Leute bringt.
Und eigentlich sollten auch die Solidaritätsgruppen irgendwann unabhängig werden, nicht?
Mittelfristig kann das durchaus funktionieren. Wir versuchen deshalb auch, eine Selbstfinanzierung zu unterstützen. Die Solidaritätsgruppen sind jedenfalls auf einem vielversprechenden Weg und eine schöne Bestätigung für Fastenaktion, dass das, was wir im Senegal machen, gut funktioniert. Und auch wenn es eine gewisse Mehrarbeit bedeutet, möchten wir sie gerne noch weiterverbreiten. Dabei wollen wir insbesondere jene miteinbeziehen, die am wenigsten haben und nicht so leicht zu erreichen sind.

Die Solidaritätsgruppen stellen häufig gemeinsam Produkte wie Seife her, die dann verkauft werden. Der Erlös kommt der Solidaritätsgruppe zugute.
Bedeutet diese Eigendynamik auch, dass es uns als Organisation im Senegal früher oder später gar nicht mehr braucht?
Das wäre natürlich schön, und es ist auch vorstellbar, aber noch sind wir nicht so weit. Die Begleitung durch unsere Partner ist vielerorts weiter nötig, um die Nachhaltigkeit der Gruppen sicherzustellen. Zudem helfen die Gruppen zwar bei der Finanzierung von vielen Alltagsdingen, aber es gibt darüber hinaus noch weitere Probleme wie die Klimaerwärmung, die zu schlechten Ernten und mehr Versandung führt. Da ist zum Beispiel agrarökologisches Fachwissen gefragt, das unsere Partnerorganisationen ebenfalls vermitteln.
Gibt es Lektionen aus diesem Erfolg, die sich auf die Arbeit in anderen Ländern übertragen lassen?
Das ist leider schwierig. Jedes Land hat andere Eigenheiten, die nicht überall gleich günstig sind. Selbst wenn sich so ein Ansatz erfolgreich lokal verankern lässt und von den Menschen als sinnvoll erachtet wird, kommt es stark auf den politischen und kulturellen Kontext an, wie es dann damit weitergeht.
Multimediale Reportage
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