Stella, du hast als Studentin selbst an einem Projekt von Fastenaktion teilgenommen. Wie wichtig war dies für deine weitere Entwicklung?
Sehr wichtig! Es war ein Sprungbrett und legte den Grundstein für mein heutiges grosses Netzwerk. Ich erwarb damals Fähigkeiten, die ich seither immer wieder genutzt habe.
Was war das für ein Projekt?
Es hiess «Peace Units» und wurde von Pax Romana durchgeführt, einer internationalen Bewegung katholischer Studierender, die von Fastenaktion unterstützt wurde. Ziel war, die weitverbreitete Gewalt an Kenias Universitäten einzudämmen – es gab damals viele Konflikte zwischen Studierenden, der Verwaltung und der Regierung, bis hin zu Morden. Ich schloss mich dem Projekt 1999 an, also mit 19 Jahren. 2002 gründete ich eine eigene Gruppe an meiner Universität und wurde später nationale Koordinatorin. So erhielt ich weitere Schulungen und lernte, wie man bei anderen Menschen Fähigkeiten aufbaut, damit sie erfolgreich auf eigenen Beinen stehen können
Zur Person
Stellamaris Mulaeh (45) lebt in Waruku nahe der kenianischen Hauptstadt Nairobi, gemeinsam mit ihrem Mann, einem Wirtschaftsprofessor, sowie einer Tochter (12) und einem Sohn (10). Die Expertin für nachhaltige Lebensmittelsysteme, Agrarökologie und lokal geführte Entwicklung leitet die von ihr gegründete Organisation Act for Change Trust und startete ihre berufliche Zusammenarbeit mit Fastenaktion 2004 als Projektverantwortliche. Heute ist sie Koordinatorin des gesamten Landesprogramms und arbeitet mit einem kleinen Team von vier Personen. Daneben betreibt die Familie eine eigene Farm.
Und so bekamst du schliesslich einen Mandatsvertrag bei Fastenaktion?
Genau, als Fastenaktion 2008 jemanden suchte, um die Arbeit in Kenia zu koordinieren, bewarb ich mich und bekam einen Vertrag – mit gerade mal 27 Jahren. Es war eine Feuertaufe, denn zu der Zeit herrschte nach Wahlen gerade grosse Gewalt. Meine erste Aufgabe war es, mit lokalen Organisationen zusammenzuarbeiten, um die Situation zu entschärfen.
Wie schwierig war das?
Sehr schwierig! Umso mehr, als damals alle diese Organisationen von älteren Herren geleitet wurden – und dann kam ich als junge Frau. Ich hatte noch kein Büro und traf die Partner allein in irgendwelchen Restaurants, das war manchmal hart. Ich bat Fastenaktion um Mentoring und Weiterbildung, und so wurde es allmählich besser.
Heute bist du Expertin für Agrarökologie und lokal geführte Entwicklung – wie kam es dazu?
Das begann 2016 nach einer Neuausrichtung unseres Programms in Kenia. Damals besuchten wir Projekte von Fastenaktion in Madagaskar, wo agrarökologische Methoden, Spargruppen und der Solidaritätsansatz bereits etabliert waren. Die grösste Herausforderung in Kenia war dabei das mangelnde Vertrauen unter den Menschen.
Stella begleitet unsere Projekte vor Ort eng und ist dabei häufig in abgelegenen Regionen Kenias unterwegs.
Inwiefern?
Um in den Spargruppen kollektiv mit Geld umzugehen, braucht es zwingend gegenseitiges Vertrauen. Und die Menschen hier vertrauten einander nicht, weil es zuvor viele Betrüger:innen gab. Sie kochten und assen nicht mal miteinander, weil sie Angst hatten, vergiftet oder verhext zu werden. Wir begannen mit ganz wenigen Personen und kleinen Gruppen. Probierten aus, was funktioniert und was nicht, lernten daraus und expandierten. Und weil alle Regionen etwas anders funktionieren, müssen wir unsere Konzepte immer wieder anpassen.
Inzwischen sind diese Konzepte etabliert und verbessern die Leben Tausender Menschen. Was sind die entscheidenden Faktoren für diesen Erfolg?
Eine langfristige Perspektive, der Dialog und das Entwickeln einer Vision gemeinsam mit den Menschen, unsere Offenheit, uns an lokale Situationen und Traditionen anzupassen und mit ihnen zu arbeiten. Und natürlich die finanziellen Mittel von Fastenaktion und die grossartige Unterstützung durch unsere lokalen Partnerorganisationen. Letztlich befähigen wir die Menschen, auf eigenen Beinen zu stehen, und ermöglichen so eine auf Solidarität basierende Reise der Transformation.
Du arbeitest auch mit anderen Entwicklungsorganisationen zusammen. Wie aussergewöhnlich ist der Ansatz von Fastenaktion?
Viele NGOs konzentrieren sich auf den wirtschaftlichen Wandel, doch allein damit können die Herausforderungen hier nicht gemeistert werden. Fastenaktion geht weiter und ermöglicht zusätzlich einen sozialen Wandel. Mit der Eigenverantwortung der Gemeinschaft zu arbeiten, ist wirklich sehr ungewöhnlich. Fastenaktion gehört zu den wenigen NGOs, die mit einer langfristigen Vision und über viele Jahre mit einem Partner zusammenarbeiten. Das erlaubt es, auch mal Risiken einzugehen, und führt letztlich zu nachhaltig gestärkten Gemeinschaften. Aber dieser Ansatz braucht viel Zeit, und er kann nicht einfach in einem gut klimatisierten Büro entwickelt werden. Die enge Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft ist zentral.
«Die Organisationen wurden von älteren Herren geleitet.»
Im Fokus unserer Arbeit steht der Aufbau von Fähigkeiten. Wie passiert das konkret?
Wir reaktivieren bereits vorhandenes, traditionelles Wissen und ermutigen die Menschen, dieses wieder zu nutzen. Ergänzend bringen wir neues Wissen, etwa zur agrarökologischen Landwirtschaft, zur Stärkung der Geschlechtergerechtigkeit oder zur friedlichen Lösung von Konflikten. Es beginnt mit einem Dialog: Unsere Partnerorganisation geht in die Gemeinschaften, diskutiert mit ihnen, lernt ihre Bedürfnisse und Ideen kennen. Erfährt, welche Ressourcen zur Verfügung stehen, um die gemeinsame Reise zu beginnen. Dann werden aus der Gemeinschaft Personen identifiziert, die sich als Mentor:innen für diesen Wandel engagieren. Anschliessend gibt es Schulungen. Letztlich geht es darum, gemeinsam an den Problemen zu arbeiten. Und wer erfolgreich unterwegs ist, wird zum Vorbild für andere.
Gibt es auch Misserfolge?
Ja, etwa wenn die Werte zwischen u uns und einem Partner oder einer Gemeinschaft nicht übereinstimmen. Oder wenn eine Partnerorganisation zu schnell wächst und deswegen interne Probleme auftauchen – eine gute Führung ist sehr wichtig.
Unsere Koordinatorin blickt mit Sorge auf die derzeitige Situation in Kenia.
Wie beurteilst du die Lage in Kenia allgemein?
Mein Land ist leider in einem traurigen Zustand. Die aktuelle Regierung ist sehr egoistisch, sie redet viel, tut aber nichts. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert sich, immer mehr Menschen werden ärmer. Sogar wenn man zur Mittelschicht gehört, kann ein einziger problematischer Vorfall zum Absturz in die Armut führen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. 70 Prozent unserer Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt. Viele bekommen zwar eine gute Ausbildung, aber danach gibt es keine Jobs für sie, keine Perspektiven.
Viele Länder kürzen aktuell Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Wie wirkt sich das auf Kenia aus?
Wir spüren das sehr. Obwohl der Bedarf wächst, steht weniger Geld zur Verfügung. Insbesondere der Rückzug von USAID ist dramatisch. Mit diesem Geld haben zum Beispiel Krankenhäuser die Löhne des Personals finanziert. Eigentlich eine Aufgabe der Regierung, aber eben… Auch mein Team und ich spüren die Folgen: Wir würden unsere erfolgreiche Arbeit gerne noch viel mehr ausweiten, aber dazu fehlen die Mittel.
Und mit der Klimaerwärmung werden die Herausforderungen eher noch grösser.
Leider. Die Regenzeit im Süden wird immer kürzer, und es gibt schon jetzt Suizide aus Verzweiflung. Frauen trifft das alles besonders hart: Sie müssen weiter laufen, um Wasser zu holen. Die Mädchen müssen zu Hause und auf den Feldern mithelfen, statt zur Schule zu gehen. Sie sind gezwungen, früh zu heiraten, weil das der Familie zusätzliches Einkommen verschafft. Die Herausforderungen sind enorm. Wir müssen innovativ sein und uns möglichst schnell anpassen – mit einer Kombination aus moderner Wissenschaft und indigenem, traditionellem Wissen.
Du bist so weit gekommen, weil du dich nicht scheust, auch Mächtigen deine Meinung zu sagen. Woher kommt dieser Mut?
Das hat sich durch mein Leben so ergeben. Auch Mächtige sind letztlich nur Menschen. Sie müssen essen wie ich, sie haben ihre Herausforderungen wie ich. Natürlich habe auch ich manchmal Ängste, aber ich sage meine Meinung, egal ob sie gefällt oder nicht. Wir sind nur für eine kurze Zeit hier. Wenn wir etwas bewirken können, sollten wir uns getrauen, das zu tun.
«Es bräuchte einen grundlegenden Wandel.»
Was braucht es, um weitere Fortschritte zu erzielen? Was erhoffst du dir?
Wir müssen unsere Prioritäten richtig setzen, als Einzelne, als Gemeinschaften, als Nationen. Es bräuchte einen grundlegenden Wandel. Aber so wie die Dinge derzeit weltweit laufen, ist es nicht leicht, Hoffnung zu haben. Sie liegt im Moment wohl eher in den kleinen Dingen. Etwa wenn ich sehe, wie wir mit unserer Arbeit das Leben für Massai-Frauen im Süden Kenias verändern – und wie sie dann wiederum ihre Gemeinschaft verändern. Sowas gibt mir Hoffnung. Am Ende müssen wir einfach versuchen, unser Bestes zu geben. Das ist alles, was wir tun können.
Friedenskomitees in Kenia
Die indigenen Massai im Süden von Kenia haben ein besonderes Verfahren, den Frieden zwischen den verschiedenen Gruppen zu bewahren. Tauchen hier hier in unsere Reportage ein, um mehr darüber zu erfahren.