Wie hast du diese Zeit der Demonstrationen und Umwälzungen erlebt?
Es war eine sehr prägende Zeit für mich. Die Demonstrationen begannen am 25. September, und ich war von Anfang mit dabei, um die Reihen der Generation Z (Jahrgänge 1995 bis 2012) zu unterstützen. Denn auch mein Zuhause im Zentrum der Hauptstadt ist von ständigen Strom- und Wasserausfällen betroffen. In meinem Viertel (Ankadifotsy) waren die Unruhen sogar besonders heftig: Immer wieder hörten wir Schüsse, und in unseren Höfen landeten ab und zu auch Tränengasgranaten. Meine jüngeren Kinder sind deswegen regelrecht traumatisiert.
Das klingt ziemlich beängstigend. Wie hat sich das auf euren Alltag ausgewirkt?
Wir hatten alle Angst, und es fiel mir manchmal schwer, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ausserdem waren alle Geschäfte und Dienstleister während Wochen geschlossen. Das hat auch einige Arbeiten verzögert. Wir haben seitens der Koordination jedoch versucht, untereinander und mit den Partnerorganisationen in Kontakt zu bleiben und uns über alle Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Auf persönlicher Ebene wurde der Schulunterricht meiner Kinder stark beeinträchtigt.
Aufstand der Generation Z
Aktuell gehen junge Leute in vielen Ländern auf die Strasse, um gegen oft korrupte Regierungen und Eliten zu protestieren – darunter sind einige Länder, in denen Fastenaktion aktiv ist. Neben Madagaskar führten solche Demonstrationen auch in Nepal zu einem Machtwechsel mit einer Interimspräsidentin. Aber auch in Kenia und auf den Philippinen gab es in letzter Zeit immer wieder Demonstrationen, die jedoch teils mit grosser Gewalt niedergeschlagen worden sind.
Nampoina Rabe (37) ist seit 2023 Teil des Koordinationsteams von Fastenaktion in Madagaskar. Er lebt in der Hauptstadt Antananarivo und hat drei Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren.
Wie hat sich all dies auf die Arbeit von Fastenaktion in Madagaskar ausgewirkt?
Es gab keine direkten Auswirkungen auf die Projekte und die beteiligten Menschen, die ausschliesslich in ländlichen Gebieten leben. Wir mussten jedoch einen Projektbesuch verschieben. Inzwischen geht die Arbeit aber wieder ganz normal weiter.
Waren es wirklich hauptsächlich junge Menschen, die diesen Machtwechsel erreicht haben? Oder gab es auch Unterstützung von anderen Gruppen?
Die Demonstrationen waren eine Folge von diversen Unzufriedenheiten verschiedener Gruppen. Dazu gehörten auch die Nichtbeachtung der Meinungsfreiheit durch die amtierende Regierung und die massive Korruption und Menschenrechtsverletzungen. So richtig los ging es, als drei Stadträtinnen und Stadträte von Antananarivo die Bevölkerung dazu aufriefen, am 25. September auf die Strasse zu gehen und gegen die Strom- und Wasserabschaltungen in der Hauptstadt zu protestieren. Die drei wurden prompt verhaftet wegen «Störung der öffentlichen Ordnung». All dies sowie ähnliche Demonstrationen in Nepal weckten das Bewusstsein der Generation Z und führten zu dieser Volksbewegung. Die Proteste verliefen seitens der Demonstrierenden völlig friedlich, doch die Sicherheitskräfte reagierten mit scharfer Munition, Tränengas, grundloser Gewalt und willkürlichen Verhaftungen.
Der neue Interimspräsident Michael Randrianirina ist ein Oberst des Militärs. Gibt es Anzeichen, dass er auf die Forderungen der Demonstrierenden eingehen wird?
Die gibt es tatsächlich. Der Präsident der «Refondation de la République de Madagascar», wie er sich selbst nennt, scheint ein bescheidener Mann zu sein, ein gläubiger Mensch, der offen für jeden Dialog ist. Er wird vor allem von der Generation Z und den anderen Demonstrierenden geschätzt, weil er sich mit seinen Truppen letztlich der Bewegung angeschlossen hat und die Beteiligten vor der Gewalt anderer Sicherheitskräfte schützte. Nach seinem Amtsantritt lud er sofort alle aktiven Parteien der Volksbewegung zu sich ein, um eine einvernehmliche Lösung zu finden.
«Es besteht eine echte Chance auf ein freies und sich positiv entwickelndes Madagaskar.»
Könnte dieser Machtwechsel zu einer echten Veränderung im Land führen?
Ja, wenn Michael Randrianirina sein Wort hält, besteht eine echte Chance auf ein freies und sich positiv entwickelndes Madagaskar. Die Mehrheit der Bevölkerung ist auch sehr erleichtert über den Abgang der sehr korrupten früheren Regierung. Nach allem, was der Interimspräsident bisher so sagt, kann das Volk nun auf eine echte, vollständige Neugestaltung des Regierungssystems hoffen – und auf eine strenge, rechtsstaatliche Bestrafung all jener, die dem Land Schaden zugefügt haben.
Konfrontation mit den Sicherheitsbehörden: Studierende der Universität Ambondrona Mahajanga demonstrieren für ihre Rechte.
Was braucht es, um einen echten Wandel einzuleiten?
Dafür reicht es nicht, nur das Regierungssystem zu ändern oder seine Mitglieder auszuwechseln, denn das hat es seit der Unabhängigkeit Madagaskars 1960 schon mehrmals gegeben. Wir stehen derzeit am Beginn der 5..Republik – und sind immer noch am gleichen Punkt. Was es braucht, ist ein Mentalitätswandel, von ganz unten bis ganz oben! Dafür sind aus meiner Sicht zwei Dinge nötig: Eine Rückbesinnung auf das traditionelle madegassische Prinzip des «Fihavanana»; dies umfasst ein ausgeprägtes Gefühl für Solidarität, gegenseitige Hilfe und soziale Harmonie. Ausserdem müssen wir die Kultur der Straflosigkeit und Korruption ausmerzen und durch eine Kultur der Ehrlichkeit und Leistungsgesellschaft ersetzen.
Kann Fastenaktion mit ihrer Arbeit dazu beitragen?
Sogar sehr. Mit unseren Solidaritätsgruppen fördern wir zum Beispiel den sozialen Zusammenhalt. Ich bin überzeugt, dass unsere Arbeit in dieser Zeit des Wandels auf nationaler Ebene Anerkennung finden wird. Wir werden unsere Anstrengungen verdoppeln, um möglichst viele Menschen aus den Solidaritätsgruppen und Partnerorganisationen in alle Diskussionen über den Wandel in Madagaskar einzubeziehen.
Erfahren Sie hier mehr über unsere wirkungsvolle Arbeit in Madagaskar.